Frau Buyx übernehmen Sie!

4. November 2021

Oliver Kieper überlegt, wann die laufenden und angedachten Bestrebungen zur Tarifoptimierung ein Fall für den Ethik-Rat werden

Zwei Macher der Branche – ähnliche Gedanken. Am 21.09.2021 wird Norbert Rollinger (Vorstandschef R+V) bei t-online zitiert: „Als Versicherungsbranche werden wir früher oder später darüber nachdenken müssen, möglicherweise Tarife nach Impfstatus zu unterscheiden.“ Drei Tage später gibt Oliver Bäte (Vorstandschef Allianz) dem Handelsblatt ein Interview und sagt unter anderem: „Wir müssen weg von dem Prinzip, dass die Gemeinschaft zahlt, wenn sich einzelne falsch ernähren oder riskante Sportarten treiben.“

Eine Versicherung schützt vor den Folgen eines Risikos, dass allen droht, aber tatsächlich nur wenigen passiert. Deswegen zahlen Menschen einen Beitrag in eine Kapitalsammelstelle, die Versicherung, die im Schadenfall dann leistet. Ohne das solidarische Einzahlen aller, wäre die Auszahlung an tatsächlich Geschädigte nicht möglich. 

Die Prämie soll immer exakter dem versicherten Risiko entsprechen

Seit geraumer Zeit gibt es in vielen Sparten Bestrebungen, die Prämie exakter dem Risiko anzugleichen. In der Kfz-Sparte zum Beispiel, wo inzwischen zig Abfragen gestellt werden, um eine Prämie zu errechnen. In der PKV können individuelle Zuschläge je nach Gesundheitszustand bei Antragsstellung berechnet werden. In der Biometrie löst ein Scoring-Verfahren langsam die Berufsgruppeneinteilung ab und die Wohngebäude ermittelt Beiträge unter anderem nach den Zürs-Zonen. 

Auf den ersten Blick klingt das sehr logisch: wer weniger Risiko hat, der soll auch weniger zahlen. Und Vermittler freuen sich, wenn sie einen notwendigen Versicherungsschutz mit günstiger Prämie anbieten können. Doch: Wo es Gewinner gibt, gibt es auch Verlierer. Wenn die Prämie für den einen extrem heruntergerechnet wird, bleibt kein Geld über, um teure Risiken auszugleichen. Mit anderen Worten: Wer das Vorhaben höchste Äquivalenz zwischen Risiko und Prämie zu erreichen auf die Spitze treibt, der untergräbt die Solidarität in einem Versichertenkollektiv. Zu Lasten derer, deren Versicherungsschutz immer teurer wird und zwar unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Einfach nur, weil ein Dachdecker mehr Risiko hat, als kaufmännische Angestellte. 

Wer entscheidet eigentlich, was ein „Fehlverhalten“ ist?

Wenn die Branche nun noch hingeht, und das Fehlverhalten einzelner noch weiter sanktioniert, geht der Geist, der ohnehin schon halb aus der Flasche ist, nie wieder herein. Was ist eine riskante Sportart? Was ist falsche Ernährung? Wer entscheidet das? Wer kontrolliert das? Was wird das für ein Umgang untereinander werden?

Wir können der Versicherung in Zukunft Zugang zum GPS-Tracker gewähren, um zu beweisen, dass wir nicht beim Moutainbiken waren. Geben wir die Daten der Payback-Karten frei, um zu beweisen, dass wir gar keinen Alkohol, Tabakwaren oder Kartoffelchips kaufen. Auch der Geist, Daten als Währung zu begreifen, lugt bereits aus der Flasche. Man nehme nur mal das Beispiel Telematik-Tarife in der Kfz-Sparte. Wann kommt der Tarif, der Zugriff auf den zentralen Chip eines Autos erwartet, um im Gegenzug, bei entsprechender Fahrweise, die günstige Prämie zu errechnen. Wer dann von Bremen nach Hamburg mit 100km/h fährt, kommt günstiger weg als der, der 190km/h fährt. Zukunftsmusik? Mit Nichten. Tesla hat genau mit diesem Modell in diesen Tagen in Texas den Einstieg in den Versicherungsmarkt getätigt. 

Entscheidet die Assekuranz, welches Leben wir uns leisten können?

Die oben zitierten Aspekte zu Ende gedacht, bedeutet: In Zukunft entscheidet die Assekuranz, welche Freizeitgestaltung wir haben, wie wir leben und welche Berufe wir ergreifen. Denn wer aus Sicht der Versicherer risikoreicher lebt und/oder arbeitet, bekommt nur noch teure Prämien. Oder wir bezahlen mit der (kompletten) Freigabe unserer Daten, was einer Überwachung gleichkommt. Oder die dritte Konsequenz: die Menschen sind dann nicht versichert, weil sie es sich nicht mehr leisten können (oder wollen) und fallen dann im Schadenfall der Allgemeinheit zur Last. Gewinne personalisieren, Schäden sozialisieren. Haben wir schon mal gehört. Das alles kann der Vermittlerschaft aus beruflichen wie gesellschaftlichen Gründen nicht egal sein. Denn zu hohe Prämien verringern den Markt. 

Ein bisschen Solidarität behalten und die Probleme sind gelöst

Das darf nicht sein. Es wäre ein ganz einfacher Gedanke viel zielführender: Wenn in einem Versichertenkollektiv weiterhin diejenigen mit wenig Risiko ein paar Euro mehr zahlen, bleiben auch für andere, die ein hohes Risiko haben, die Prämien erschwinglich. Und in einer liberalen Gesellschaft sollten wir der übermäßigen Erfassung von Daten eher kritisch gegenüberstehen. 

Die Entwicklung gibt Anlass zum kritischen Hinschauen: Frau Buyx, bitte übernehmen Sie. 

Ihr Oliver Kieper

Bild: Netfonds, Jialu Yu