Was Anleger nach der US-Wahl erwartet
Schlechte Umfragewerte hin oder her: Donald Trump abzuschreiben war noch nie eine gute Idee. Ob es für Herausforderer Joe Biden tatsächlich reicht, bleibt außerdem womöglich über Wochen ungeklärt. Welche Szenarien wahrscheinlich sind und was sie aus Anlegersicht bedeuten.
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Um zu verstehen, was es heißt, Donald Trump zu unterschätzen, muss man nicht Hillary Clinton fragen. Immer wieder ist es dem US-Präsidenten in den vergangenen vier Jahren gelungen, scheinbar ausweglose Situationen für sich zum Vorteil zu wenden und politisch Kapital daraus zu schlagen. Nun aber, kurz vor der Wahl, so scheint es, hat den 74-Jährigen diese Fähigkeit im Stich gelassen, fð¤llt er in den Umfragen weiter hinter seinen demokratischen Herausforderer Joe Biden zurück. Während Trump, die Niederlage vor Augen, die Attacken auf den politischen Gegner selbst für seine Verhältnisse noch einmal verschärft, gehen einige Republikaner schon auf Distanz.
Das Momentum und die Pandemie
Körperlich mag Trump also vom Virus genesen sein, der politische Schaden aber geht weiter: Die Umfrageergebnisse seit Anfang Oktober sprechen dafür, dass ihn die eigene COVID-19-Erkrankung noch einmal deutlich an Zustimmung gekostet hat. Den so wichtigen Wechselwählern könnte der augenfällige Widerspruch zwischen dem Trumpschen Narrativ einer harmlosen Grippe und der harschen Corona-Realität des Landes den entscheidenden Impuls geliefert haben. Gerade die aktuell steil steigenden Corona-Fallzahlen und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt lassen ein Votum für den demokratischen Herausforderer für viele womöglich in neuem Licht erscheinen.
Denn trotz eines beständigen Vorsprungs in den Umfragen hat Joe Biden das Momentum erst seit kurzem auf seiner Seite. Selbst viele treue Parteigänger sehen in dem 77-jährigen weniger den Mann für die kommenden vier Jahre, als den, der weitere vier Jahre Trump verhindern soll. Zudem ist er unter dem Trumpschen Trommelfeuer trotz einiger Punktsiege lange blass geblieben. Erst die COVID-19-Erkrankung des Wahlkämpfers Trump gab ihm letztlich Raum, sich Gehör zu verschaffen und als Krisenmanager zu empfehlen. Sein präsidialer Auftritt im vergangenen TV-Fern-Duell mit Trump hat seiner Kampagne geholfen, auf den letzten Metern etwas Fahrt aufzunehmen.
Für Biden geht es nun darum, den Vorsprung nicht aus der Hand zu geben und seine Unterstützer zum Urnengang zu mobilisieren. Sein vergleichsweise schwach ausgeprägter Instinkt für die Basis à la Trump, aber auch immer wieder Aussetzer könnten ihn den Zieleinlauf noch verstolpern lassen. Schon heute hat er im letzten direkten TV-Aufeinandertreffen mit dem Amtsinhaber Gelegenheit, seine Aussichten auf den Einzug ins Weiße Haus zu zementieren oder zunichte zu machen. Letzteres bräuchte indes nicht unbedingt einen öffentlichen Patzer des Kandidaten: So könnte beispielsweise eine COVID-19-Erkrankung Bidens kurz vor der Wahl noch einmal alles auf den Kopf stellen.
Gemengelage mit System
Als größte Hürde beim Ummünzen von Umfragehochs in Wahlsiege gelten allerdings Eigenheiten des US-Wahlsystems, die das landesweite Stimmenverhältnis verzerren: Die Amerikaner wählen ihren Präsidenten bekanntlich nicht direkt, sondern separat nach 50 Bundesstaaten. Diese entsenden insgesamt 538 Wahlmänner und -frauen, in Summe das sogenannte Electoral College, zur eigentlichen Wahl des US-Präsidenten nach Washington. Für den Einzug ins Weiße Haus muss der erfolgreiche Kandidat dort Mitte Dezember mindestens 270 von ihnen hinter sich bringen.
Das Problem für belastbare Prognosen: Die allermeisten Bundesstaaten wählen nach dem Winner-Takes-All-Prinzip, das dem Sieger alle von dort entsandten Wahlmänner zugesteht. Der Verlierer geht dabei leer aus und wird gewissermaßen bestraft, indem man seinen Stimmenanteil praktisch streicht. Die Republikaner sind in dieser Hinsicht gleich doppelt im Vorteil: Sie dominieren traditionell viele der kleinen Bundesstaaten, die bei der Zahl der Wahlleute im Vergleich zu den großen auch noch überrepräsentiert sind. Das kann dazu führen, dass ein Kandidat zwar die landesweite Stimmenmehrheit, die Popular Vote, auf sich vereint, im Rennen um das Weiße Haus aber trotzdem das Nachsehen hat.
Schlachtfelder Too Close To Call
Dieses Phänomen hat zuletzt zwei republikanische Präsidenten auf ihrem Weg ins Oval Office begünstigt, George W. Bush im Jahr 2000 – und vor vier Jahren Donald Trump. 2020 hat sich das Blatt den Umfragen zufolge jedoch gewendet. Selbst sonst sicher geglaubte republikanische Bundesstaaten wie Georgia, Iowa, Ohio und Texas stehen auf der Kippe und könnten 2020 an die Demokraten gehen. Am Wahlabend richten sich daher noch mehr als sonst aller Augen auf diese Swing oder Battleground States, jene Bundesstaaten, in denen die Kontrahenten Kopf an Kopf liegen und es deshalb oft heißt: „too close to call“, zu knapp für eine Entscheidung, oft bis weit in die Wahlnacht hinein.
Oder darüber hinaus: Trump hat wiederholt deutlich gemacht, dass er die Wahl für betrugsanfällig hält und jedes Ergebnis außer seinem Sieg vor den Supreme Court bringen würde. Die Obersten Richter dürften die Entscheidung – selbst bei erstarkter konservativer Mehrheit durch Richterin Amy Coney Barrett – kaum übers Knie brechen und gegebenenfalls Stimmennachzählungen anordnen. Dann droht wie zur Jahrtausendwende im Fall Bush vs. Gore eine wochenlange Hängepartie, die den S&P-500 bis zur Entscheidung des Gremiums um 8 % auf Talfahrt schickte.
Zusätzliche Dynamik könnte in der Wahlnacht die hohe Zahl an Briefwählern mit sich bringen, die wegen COVID-19 bei dieser Wahl weit über normal liegt. Beobachter erwarten unter Ihnen einen hohen Anteil Biden-Wähler, weshalb Donald Trump keine Gelegenheit auslässt, das Briefwahlverfahren zu diskreditieren. Da sich die Auszählung von Briefwahl-Stimmen erfahrungsgemäß in die Länge zieht, könnte sich zunächst Trump zum Sieger erklären, um dann später von Biden eingeholt zu werden.
Szenarien, Märkte und Sektoren
Vieles ist also noch in der Schwebe und das Rennen längst nicht gelaufen. Doch welche Szenarien sind wahrscheinlich und wie wären Märkte und Anlageklassen davon betroffen?
Szenario 1: Biden gewinnt
Biden und die Demokraten stehen für Steuererhöhungen und mehr Regulierung. Sollte Biden der Democratic Sweep gelingen, also die Demokraten beide Häuser für sich entscheiden, dürften die Märkte daher zunächst negativ reagieren. Schließlich würde dieses Szenario Biden mit der nötigen Macht versehen, seine Politik ungehindert umzusetzen. Es wird erwartet, dass er die Unternehmenssteuern heraufsetzen und von Trump deregulierte Bereiche wieder strengerer Gesetzgebung unterwerfen würde.
Betroffen von seinen Vorhaben wären vor allem Technologie- und Finanzbranche sowie das Gesundheitswesen. Seine Pläne für einen Green Deal, also Investitionen in saubere Energie und grüne Infrastruktur, würde Investitionsströme weg von fossilen Brennstoffen, hin zu erneuerbaren Energieträgern lenken. Ein höheres Haushaltsdefizit könnte die Anleiherenditen steigen lassen, maßgeblich sollte hier allerdings weiterhin die Fed bleiben. Indem die Märkte trotz Bidens Umfrage-Vorsprung auf neue Höchststände geklettert sind, haben sie sich ohnehin bereits ein Stück weit vom politischen Geschehen abgekoppelt und einen möglichen Sieg des 77-Jährigen eingepreist.
Sollte der Demokrat gewinnen, aber mit einem gespaltenen Kongress regieren müssen, dürfte die Marktreaktion daher neutral oder leicht positiv ausfallen. Denn große Teile seiner politischen Agenda wären mit einem republikanisch dominierten Senat nicht umsetzbar, während die weichere Position Bidens in puncto Außenhandel der Wirtschaft entgegenkäme.
Szenario 2: Trump gewinnt
Ein Sieg Trumps scheint laut Umfrageergebnissen gegenwärtig nur mit gespaltenem Kongress möglich. Von diesem Ergebnis würden in erster Linie Aktien profitieren. Gerade bei jenen Titeln und Sektoren, die unter Biden Steuererhöhungen und Regulierung zu befürchten hätten, würde eine zweite Amtszeit für Trump wohl eine Erleichterungsrallye auslösen.
Allzu groß dürfte diese insgesamt jedoch nicht ausfallen, bedeuten vier weitere Jahre Trump doch auch fortgesetzte Handelskriege, konfrontative Außenpolitik und das Aufkündigen internationaler Zusammenarbeit. Beobachter erwarten daher für den Fall einer Wiederwahl Trumps im Wesentlichen eine Fortschreibung des bisherigen Corona-Erholungspfades.
Szenario 3: Unklarer Wahlausgang
Fast wichtiger als der Wahlsieger selbst ist aus Sicht der Märkte ein klares Ergebnis. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass es anders kommt, dass Stimmen nachgezählt werden müssen und letztlich der Supreme Court über den 46. Präsidenten der USA entscheidet. Ein wochenlanger Schwebezustand wäre aber wie schon im Jahr 2000 Gift für die Märkte und würde hohe Volatilität und Abschläge auf breiter Front mit sich bringen.
Für zusätzliche Unruhe nach der Wahl könnten bei diesem Ausgang auch rechtsgerichtete militante Gruppen sorgen, die der Präsident im TV-Duell mit Joe Biden aufgefordert hatte, sich bereitzuhalten. Dass Trump, hinter Bürgerwehren verschanzt, Joe Biden den Einzug ins Weiße Haus schlicht verweigern könnte, ist indes nicht zu erwarten: Seit 1792 schaffe man es in den USA alle vier Jahre, geordnete Übergaben zu garantieren und das werde auch dieses Mal klappen, so der Republikaner-Führer im US-Senat, Mitch McConnell. Bei allen Unwägbarkeiten ist also eines sicher – spätestens am 20. Januar 2021, dem Tag der Amtseinführung, wissen wir mehr.
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